Weil Versicherer in der Coronakrise die Bedingungen für die Managerhaftpflicht rückwirkend verschärfen, könnten Top-Manager für Fehler bald unbegrenzt zur Verantwortung gezogen werden. Das stellt viele Unternehmen vor Probleme, von denen sie bislang kaum etwas ahnen.
Der Fall liegt 16 Jahre zurück. Und doch wird er derzeit regelmäßig zum Thema, wenn sich Personalberater, Versicherungsanwälte und Top-Manager austauschen. Damals traten beim Unternehmen Lion Bioscience auf einen Schlag Vorstand und Aufsichtsrat geschlossen zurück - aus versicherungsrechtlichen Gründen. Das Biotechunternehmen aus Heidelberg konnte sich keine Managerhaftpflichtversicherung (auch Directors-and-Officers-, kurz D&O-Versicherung genannt) mehr leisten, um seine Führung vor Schadensersatzforderungen wegen Managementfehlern zu schützen. Typischerweise schließen Versicherer je nach Unternehmen spezielle Risiken aus, mal Umwelt- und mal Produkthaftungsschäden, inzwischen auch Probleme wegen der Coronapandemie. Für die übliche jährliche Vertragserneuerung verlangte der Versicherer von Lion Bioscience 800 000 Euro statt 550 000 Euro und forderte zugleich mehr Haftungsausschlüsse im Kleingedruckten.
Dass der Fall Lion Bioscience derzeit wieder rege diskutiert wird, hat einen einfachen Grund: Der damalige Einzelfall droht gerade zum Muster für dramatische Managementumbrüche in der deutschen Wirtschaft zu werden. Nach Einschätzung des D&O-Anwalts Michael Hendricks könnte er sich bald “dutzendfach wiederholen”. Denn die aktuelle Pandemie setzt nicht nur Unternehmen, sondern auch Versicherer wirtschaftlich unter Druck. Und so weigern sich die D&O-Versicherer immer häufiger, bei Schadensfällen einzuspringen - und erhöhen gleichzeitig die Prämien. Dabei hat der Wegfall eines solches Schutzes in Deutschland besonders drastische Konsequenzen, weil hiesige Manager, anders als in den meisten Industrieländern, unbegrenzt haftbar gemacht werden können.
Im Schnitt verlangen D&O-Versicherer 30 Prozent mehr, schätzt Hendricks. Dabei gilt: Je größer die Firma und je gebeutelter die Branche, desto höher der Aufschlag. Besonders betroffen ist derzeit etwa die Luftfahrtbranche. So erwartet Triebwerkshersteller MTU für seine D&O-Versicherung in den laufenden Verhandlungen eine Preiserhöhung im zweistelligen Prozentbereich. Abstriche bei der Leistung erwartet der Konzern noch nicht. Von der Lufthansa berichten Branchenkenner, dass mehrere Versicherer bei dem Vorzeigekunden abgewinkt hätten. Die Fluglinie gab sich wortkarg: Sie habe “unverändert Versicherungsschutz im marktüblichen Umfang”. Sie wollte aber keinesfalls verraten, wie lange. Airbus wollte sich gleich gar nicht äußern.
“Manche Versicherer wollen keine D&O-Kunden mehr und machen reine Abwehrangebote, die inakzeptabel sind”, erzählt Anwalt Hendricks. Mitunter verzehnfache sich die Prämie, zugleich aber seien zentrale Dinge wie Corona- und Insolvenzrisiken ausgeschlossen. Er berät bei den Verhandlungen über die entscheidenden Details viele Industrieversicherungsmakler und sagt: “Die trauen sich mit den neuen Vertragswerken fast nicht zu ihren Kunden.”
Und so lassen sich viele Unternehmen auf weitere Haftungsausschlüsse ein, solange die Prämie dafür halbwegs im Rahmen bleibt. Eine gefährliche Strategie: “Manager riskieren mit neuen Verträgen im Nachhinein den Schutz für Pflichtverletzungen zu verlieren, die bereits Jahre zurückliegen”, erläutert Karl-Heinz Holz, Vorstand des Versicherungsmaklers Euroassekuranz. Hat etwa der Chef einer Hotelkette in diesem Jahr trotz der Umsatzeinbrüche durch die Reiseeinschränkungen nicht frühzeitig einen Insolvenzantrag gestellt, drohen im nächsten Jahr möglicherweise Schadensersatzforderungen der Lieferanten - gegen die er nach einem Versicherungsausschluss im Verlängerungsvertrag dann nicht mehr geschützt wäre.
So dramatisch die Verschärfung nun sein mag, absehbar ist die Problematik schon länger. Seit mindestens zehn Jahren machen D&O-Versicherer in Deutschland Verluste. Für unerwartet viele Fälle mussten die Assekuranzen mehr zahlen, als sie an Prämien einnahmen. So kostete der Konzern Bilfinger die Allianz-Tochter ACGS fast 17 Millionen Euro allein an Schadensersatz, als der Konzern nach einem Korruptionsfall seinen Chef Roland Koch und elf andere Vorstände wegen einem nicht ausreichenden Compliance-System verklagte. Hinzu kamen Millionenhonorare für Spitzenjuristen zur Verteidigung der Top-Manager. Ähnlich war es bei den Verfahren im Dieselskandal gegen den Volkswagen-Konzern: Allein die Anwaltskosten brachten den rund 20 beteiligten Kanzleien Millionenhonorare - bezahlt von der D&O-Versicherung. Und die justieren nun nach. Auch weil sie ansonsten für viele Managementfehler einspringen müssten, die die Coronakrise sichtbar macht. Erste Anbieter wie Star Stone oder MS Amlin haben ihr Geschäft in Deutschland bereits komplett eingestellt.
Die FDP hat die Gefahren für Unternehmen erkannt und fordert, dass der Gesetzgeber reagiert: Es gehe nicht darum, den Bundestag gegen Preiserhöhungen in Stellung zu bringen, sondern große Schwierigkeiten von Unternehmen und ihren Managern abzuwenden, heißt es in einer kleinen Anfrage. Denn “sonst kann es auch passieren, dass gute Leute ihre Positionen nicht antreten oder aufgeben, weil es keinen Schutz gibt”.
Es ließe sich allerdings einwenden, dass es ebenfalls helfen könnte, wenn Manager sich öfter an die Gesetze hielten - mit den Schadenssummen könnten dann auch die Versicherungsprämien eines Tages wieder sinken.
Methode
Das Handelsblatt Research Institute (HRI) fragte mehr als 1340 Juristen aus 176 Kanzleien nach ihren renommiertesten Kollegen im Erbrecht und Versicherungsrecht. Im Erbrecht setzten sich 35 Kanzleien mit 40 Anwälten, im Versicherungsrecht 22 Kanzleien mit 33 Juristen durch. Die Jury für Erbrecht: Gabriele Ark (Omni Bridgeway), Peter May (Peter May Family Business Consulting), Hanns-Ferdinand Müller (Foris AG), Achim Schunder (C.H. Beck). Die Jury für Versicherungsrecht: Jan Eckert (ZF-Friedrichshafen), Dirk Eichler (Zurich Gruppe Deutschland), Hanns-Ferdinand Müller (Foris AG), Sandra Peters (Omni Bridgeway) Achim Schunder (C.H. Beck).
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Quelle: „Hochrisikojob Chef“, WirtschaftsWoche print NR. 048
Veröffentlicht am: 20. November 2020
Autor: Kiani Kreß, Rüdiger/ Tödtmann, Claudia